Monday, 23 April 2018 06:00

NEW YORK VAMP CITY 2

     2. Goth City – Bevor die Neogotik zur subculture oder besser zur paraculture wird, hat sich in Europa zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in der Interpretation der Gotik noch etwas Neues ergeben, etwas, das sich als nicht rückführbar auf die ersten drei (institutionell, alternativ, kommerziell) und damit als vierte originäre Vorstellung der Neogotik konstituiert. Diese vierte Interpretation, die ich mit dem Terminus anorganisch belegen würde, scheint mir den richtigen Schlüssel für die Interpretation New Yorks als einer goth city zu liefern. Der Autor dieser Sichtweise ist der deutsche Kunsthistoriker Wilhelm Worringer, und hervorgegangen ist sie aus dem kulturellen Umfeld des deutschen Expressionismus. Das Werk, auf das ich mich beziehe, heißt Formprobleme der Gotik (1911).

     Die Erfahrung des Anorganischen geht für Worringer mit der Gotik einen entscheidenden Schritt voran, weil sie sich nicht auf eine statische, geometrisch-kristallklare Darstellung der Form beschränkt; die Gotik ist von einem mysteriösen Pathos durchdrungen, das das Anorganische durch die Schaffung eines künstlichen „Lebens“, einer „lebendigen“ Mechanik dynamisiert, die unendlich intensiver als das natürliche Leben ist. Mit der Gotik feiert die Abstraktion ihren eigenen Triumph, weil sie sich zugleich ihr Gegenteil, die empathische Dimension einverleibt. Doch meint diese Einverleibung keineswegs harmonische Synthese: eher mischen sich Materialität und Sensibilität in ihr auf beunruhigende Weise, was dem organisch temperierten vitalen Gefühl wie ein „Übermaß an Zersetzung“ vorkommt. Die Perversion der Gotik liegt darin, dass sie die Grenzen der organischen Mobilität durchbricht: sobald die Energie in die toten Linien des Steins läuft, erhält dieser eine unendliche Kraft, die jedes Hindernis niederwalzt. Die Gotik führt uns mithin vor eine Erfahrung von Form, die den Begriff der Form selber, verstanden als bestimmte, mit einer präzisen Identität ausgestattete Konfiguration, auflöst. Man kann sich hier fragen, was denn  eine derartige Erfahrung noch an „Formalem“ enthält: ich halte es hier für angebracht, nicht allein den Charakter der Transzendenz hervorzustreichen, der den Gründervätern der ästhetischen Form, Wölfflin und Riegl nicht weniger als Worringer gemein ist, sondern viel wesentlicher noch auf den Charakter der jeder Art organisch vitalistischer Subjektivität entgeg11esetzten Exteriorität hinzuweisen: die den gotischen Bauwerken scheinbar innewohnende Energie ist vollkommen autonom und unabhängig von uns, ja sie wendet sich geradezu herausfordernd an uns; die Erregung, die sie in uns auslöst, hat nichts mit Gefallen oder Spiel zu tun. Sie ist vielmehr etwas, auf das wir, könnten wir, gut und gern verzichteten! Das Kunstwollen gehört also nicht dem Subjekt, dem Künstler, sondern setzt sich als etwas Fremdes und Despotisches gegen ihn durch. Das Fühlen, das über die Sinne der gotischen Erfahrung hinausschreitet, sollte nicht als Trachten nach entmaterialisierter Spiritualität, sondern als Fremdheit, als die Rätselhaftigkeit eines bebenden Steins aufgefasst werden. Einmal mehr unterscheidet sich die ästhetische, weil unlösbar mit der res, mit der Sache, mit der Masse verbunden, von der religiösen Erfahrung. Gotische Kunst ist asymmetrisch und azentrisch: während die klassische Kunst zur Symmetrie und zur Bestimmung einer Mitte tendiert, wirft sich gotische Kunst in die unendliche Wiederholung eines einzelnen Motivs, in eine grenzenlose, nie zur Ruhe kommende Potenzierung. Sie leidet an einer Art „sublimer Hysterie“, die sie in Taumel und Trunkenheit treibt, um dort nur krampfhaft und unnatürlich Befriedigung zu finden.

     Als eine Folge der anorganischen ästhetischen Erfahrung wird der Körper, wie von Worringer beschrieben, anders perzipiert. Er geht seiner Dimension als autonomer, lebendiger - in den Nackten der griechischen Antike so ohnegleichen gefeierter - Organismus verlustig: mehr als der Körper zählt in der gotischen Kunst die Kleidung, die Dasein und Gewicht erhält, unabhängig von dem, was sie bedeckt. Der Sieg des Anorganischen über das Natürliche erreicht seinen Scheitelpunkt, wenn die  Raffungen wie von einer dem Leben nicht zuschreibbaren Bewegung erfasst scheinen. Wiederum ist es die Vermischung von Abstraktem und Materialem, die die stärkste und beunruhigendste Wirkung hervorruft.

     Die Verbindungen zwischen dem Gotischen und dem Anorganischen unter strikt baulichem Gesichtspunkt sind übrigens auch schon von anderen hervorgehoben worden. Die gotische Kirche zeigt nur im Bild ihrer Erscheinung ein organisch gefügtes Bauwerk; so ist zum Beispiel festgestellt worden, dass das gotische Bausystem immer rein plastisch ist und die aufstrebenden Rippen und Bögen das Gebäude weder „tragen“ noch stützen. Sie hätten also mit dem Barock eine minutiös realistische Ornamentik gemein, was auch die Möglichkeit einer Begegnung der beiden Stile, wie sie sich in der Kathedrale von Toledo in Spanien ereignet, logisch erklärt.

     In Worringers Buch sind die Grundzüge jener Erfahrung klar umrissen, die ich in meiner Arbeit Der Sex Appeal des Anorganischen (1994, dt. 1999) beschreibe. In ihr erweist sich auch die realistischste sexuelle Erfahrung als entvitalisiert und in einem abstrakten Zwischenbereich zwischen zur einen Seite der philosophischen Abstraktion und zur anderen Seite den für Drogenabhängigkeit typischen Zuständen aufgehoben.

     Es gibt also einen vierten neogotischen Typus, der weder institutionell noch alternativ noch kommerziell dennoch an allen drei Dimensionen in irgendeiner Weise teilhat, weil er mit der Religion (vor allem der katholischen als der institutionalisiertesten) auf vertrautem Fuß steht, an Überschreitungen (besonders an sexuelle Perversionen) grenzt, sich über die Verfahrensweisen von Werbung und Medien verbreitet (mit denen er gleichweit entfernt zu dem steht, was sich als absolut rein und originär hinstellt). Trotzdem bekennt sich dieser vierte Typus zu keiner Doktrin oder Ideologie, er weist andere Aspekte als die von der Psychoanalyse untersuchten Perversionen auf und macht Front gegen die Welt des Spektakels und die Methoden der Kulturindustrie, wenn diese uniform und lediglich quantitativ sind. Er stellt eigentlich – und das ist der wichtigste Aspekt - eine Kultur und keine Subkultur oder Parakultur dar, das heißt, er ist das Ergebnis einer kreativen Tätigkeit, die es darauf anlegt, als solche geachtet und anerkannt zu werden, während die Subkulturen (oder Parakulturen) ein vollkommen parasitäres Lehnwesen treiben.

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