Monday, 23 April 2018 06:00

NEW YORK VAMP CITY 3

     3. Vamp City. Diesen vierten Typ des Neogotischen entdecke ich durch die Brille eines Regisseurs, Abel Ferrara, der in dieser Stadt geboren ist, dort gelebt und die meisten seiner Filme hat spielen lassen. Eines seiner unter dem Aspekt des Neogotischen signifikantesten Werke ist ohne Zweifel The Addiction (1995). Auf den ersten Blick scheint es sich um den zigsten Film zum Vampirismus, dem Thema par excellence der Gothic Subculture zu handeln. Der plot ist ziemlich einfach: eine Philosophiestudentin in New York wird von einer Frau angefallen, die sie in den Hals beißt. Von da an versinkt sie in einen Zustand tiefen Unwohlseins. Es gelingt ihr nicht zu widerstehen, wenn sie das wilde Bedürfnis drängt, andere Personen zu vampirisieren, mit denen sie philosophisch betrachtende und religiös gefärbte Beziehungen pflegt: bei ihrem Examensfest beißt sie den Rektor in den Hals und löst damit eine blutrünstige Orgie aus. Ins Krankenhaus eingeliefert stirbt sie, doch erst noch erhält sie dort Besuch von der ersten Frau, die sie vampirisiert hatte, und von einer Freundin, die ebenfalls in den Hals gebissen wurde, ihrem tragischen Schicksal aber dennoch trotzen kann.

     Der Film hat mich besonders getroffen, denn auch mein immerhin ein Jahr vor dem Film von Ferrara, 1994, veröffentlichtes Buch Der Sex Appeal des Anorganischen sieht den Vampirismus paradigmatisch für das Verständnis unserer zeitgenössischen Daseinsweise an, die ein Typ von Erfahrung zwischen Leben und Tod charakterisiert und die auf eine neutrale Sexualität und eine posthumane, unpersönliche Sensibilität fokussiert ist, just dieselbe, die die Legende dem Vampir, dem Nosferatu (rumänisch, wörtlich übersetzt, noch nicht ausgehaucht) zuschreibt. Diesem Pathologietyp hat die Psychoanalyse bisher noch keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Er steht dagegen in 11er Beziehung zu dem Teil der modernen Philosophie, zur Phänomenologie, die den Zustand des suspense, der Enthaltung, der epoché besonders bewertet: durch Ausklammerung des Subjekts führt er in einen an die Dinge und nicht die Tierhaftigkeit oder die Göttlichkeit gebundenen Horizont ein. Die Fokalisierung auf die Dinge (auf das Blut im Fall des Vampirismus) schafft eine unwiderstehliche Anziehungskraft für jene extremen Erfahrungen, die den Gegenstand von Ferraras Filmen ausmachen.

     Das von Abel Ferrara gezeigte Bild der New Yorker Kultur unterscheidet sich also gründlich von dem Werk eines anderen, weit berühmteren Regisseurs, Woody Allen: während sich das Werk des letzteren auf Neurosen, psychische Pathologien, also auf den Gegenstand par excellence der klassischen Psychoanalyse stützt, ist Ferraras Werk besessen von Perversionen, von den addictions, die meines Erachtens in aller11stem Verhältnis zur Philosophie stehen, nicht zuletzt, weil sie mit ihr die unwiderstehliche Anziehungskraft für alles Radikale und Extreme teilen. Woody Allens New York ist eine neurotische Stadt, Ferraras New York dagegen eine Goth City, in der sich weitaus ernstere und fast immer fatale psychische Pathologien äußern.

     Diese Pathologien oszillieren mit ihren Charakteristika zwischen Perversion und addiction. Während ich in dem zitierten Buch und auch anderen Schriften versucht habe, sie (durchaus unter dem Einfluß der psychoanalytischen Entwicklung des Gegenstandes bei Jacques Lacan, Robert J. Stoller und Massud Khan) im Rahmen der Perversionen zu interpretieren, liegt für Ferrara der Ausgangspunkt der anorganischen Neogotik bereits in der Drogenabhängigkeit. Die gesamte imaginäre und symbolische Welt wird mitsamt ihren komplexen Vermittlungen und enigmatischen Übergängen vernichtet und auf ein reines und einfaches craving reduziert, auf die Unmöglichkeit abzuwarten, auf das kompulsivische Bedürfnis, ein Ding anzunehmen oder eine Handlung auszuführen. Während die Welt der Perversionen auch einen Bereich des Glücks schaffen kann, ist es ausgesprochen schwierig, dass so etwas in der Welt der addictions eintreten könnte. Sie werden als absolute Zwänge gefühlt, denen man sich unmöglich entziehen kann. In The Addiction ist die Möglichkeit, das Abhängigsein zu beherrschen, allein dem - Baudelaire und Nietzsche zitierenden - Meistervampir vorbehalten!

     Darüber hinaus ist der Umstand sehr wichtig, dass Ferrara im Vampirismus die addiction par exxcellence sieht. Auf diese Weise entdeckt er die Gründe dafür, warum sich die Gothic Subculture jahrzehntelang gehalten hat, während viele Parakulturen flüchtig vorübergegangen sind. An erster Stelle rangiert der postsexuelle Charakter des Phänomens, das trotz seiner starken sexuellen Implikationen den Unterschied zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen in einer Erfahrung vom Sex Appeal des Anorganischen  überwindet: nicht zu Unrecht vertrat der Bruder Ludovico Maria Sinistrari, Berater des Heiligen Stuhls in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts die Ansicht, das Wesen, die mit Vampiren sexuellen Umgang gepflegt hätten, jeden anderen Liebhaber für mittelmäßig und unfähig hielten: er bezieht sich auf die Unersättlichkeit des vampirischen Saugens, das das Blut seiner Opfer aufnimmt und sie entkräftet zurückläßt. Doch wären Vampire längst nicht so populär, wenn nicht doch unbewusst in der derzeitigen Gesellschaft ein drängender Wunsch nach Vampirisierung vorläge.

     Nun ist New York in den letzten 5o Jahren die Vampir-Stadt par excellence gewesen, die Stadt, die das Blut der ganzen Welt aufgesaugt und sich an Kulturen, Wissen, Stilen, Informationen, materiellen und geistigen Gütern der ganzen Welt genährt und sie in Werte, Reichtümer, in Ressourcen umgewandelt hat, die sich nun ihrerseits dazu eignen, um die gesamte Welt zu gehen: geradezu exemplarisch ist in der Philosophie der Fall der sogenannten French Theory, d.h. der französischen nach-achtundsechziger Denker, die von New York vampirisiert später an die Campus-Universitäten der gesamten amerikanischen Staaten gingen.

     Die Frage, die Ferraras Film stellt, betrifft die Möglichkeit, sich der Vampirisierung zu entwinden: in jedem Fall könnten sich die Vampirisierten, angefangen bei der Protagonistin in The Addiction, dem fatalen Biß entziehen, wenn sie Kraft genug besäßen, fest zu bleiben und das Vampir zurückzustoßen. Im Film bittet das Vampir die Protagonistin: „Sieh mich an, und befiehl mir wegzugehen”, aber das passiert nicht. Ferrara glaubt an die Willensfreiheit: die addicted seiner Filme werden immer erst gefragt und machen sich doch schuldig, weil sie nicht die richtige Antwort geben. Hier und da gelingt es einem, sich New York zu entziehen: zum Beispiel in Bad Lieutenant werden die Vergewaltiger einer Klosterschwester von einem Polizisten gezwungen, in einen Bus zu steigen, der sie weit von New York wegbringt. In Mary identifiziert sich die Protagonistin soweit mit der Figur, die sie darstellt, daß sie nach Jerusalem auswandert, um dort zu leben. Trotzdem wird sie dort von der Journalistin einer New Yorker Fernseh-Talkshow aufgegabelt und nimmt telefonisch am Spektakel mit anschließender performance teil, die so perfekt gelingt, dass sie den Regisseur in den Schatten stellt, worauf dieser zutiefst enttäuscht feststellt, nicht mehr er als der Star der Fernsehsendung zu rangieren. Tatsache ist, daß inzwischen viel zu viel Leute ihr Blut unentgeltlich und ohne Schuldbewußtsein anbieten! Im Film New Rose Hotel drückt ein in New York von einem Geheimagenten und einer Prostituierten ausgetüftelter Plan noch den abstrakten Machtwillen des einen und die Verführungskunst der anderen aus, doch bald wird es weder den einen noch die andere geben. Tatsächlich ist The addiction von Abel Ferrara noch kräftig durchsetzt mit einem Hang zur Unmoral, der in der progressiven Banalisierung des derzeitigen Lebens immer weiter schwindet.

     So endet der Mythos von New York zusammen mit dem gotischen Mythos. Zwei Mythen, an die ein großer New Yorker Erzähler, William Gaddis, nie geglaubt hat. In seinen zwei großen Romanen The Recognitions und Carpenter´s Gothic hat er einen fünften Typus des Neogotischen eingeführt, den ich im Anschluß an das institutionelle, das alternative, das kommerzielle und das anorganische schließlich als das burleske bezeichnen würde; einen Typus von Gotik, der in gewissen Hinsichten sie alle auf paradoxe Weise zusammenfaßt, auf seine Weise vampirisiert und sich schließlich als bestes Antidot gegen den trash der Gothic Subculture anbietet.

(Übersetzung aus dem italienischen von Sabine Schneider)

Bibliographie

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François Cusset, French Theory. Foucault, Derrida, Deleuze & Cie et les mutations de la vie intellectuelle aux Etats-Unis, Paris, La Découverte, 2oo3.

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Id.             Carpenter´s Gothic (1985), New York, P11uin, 1986.

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Wilhelm Worringer, Formprobleme der Gotik. München. R. Piper & Co. 1911.

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